Die Geschichte von Wolfgang und Wolfgang

Wolfgang und Wolfgang

Es war ein diesiger naßkalter Novembermittwoch im Jahr 2001. Wir hatten Besucher aus Hannover und Voralberg / Österreich zu Gast, die unsere Arbeit kennen lernen wollten. Dazu gehörte auch der Straßendienst, und so be-reiteten wir die Geschwister auf ihren Einsatz vor und gingen mit ihnen früh um 7 Uhr hinaus.

Doch ausgerechnet an diesem Tag war in der Stapf-Klinik ausnahmsweise kein Betrieb, weil der Arzt für einen Tag verreist war. So brachen wir um 10 Uhr ab, um dem ständigen Nieselregen zu entfliehen. Unsere neuen Gehsteigberater hatten nur Passanten “beraten” können.

Es folgte einiges an Theoretischem, Schulung, Mittagspause, und eigentlich war kein Außenapostolat mehr vorgesehen. Doch gegen 13 Uhr wurde ich von einer (heiligen?) Unruhe ergriffen und entschied schließlich zur Verwunderung meiner Gäste und Mitarbeiter: “Wir gehen noch mal raus!” Unsere neuen und alten Gehsteigberater stellten sich darauf ein, wieder nur Passanten “beglücken” zu können.

Doch kaum waren wir draußen, sahen wir eine junge schwarze Frau aus der Klinik herauskommen. Unsere Verblüffung dauerte nur kurz, dann hängte sich unsere Annette sofort an die Fersen der jungen Dame und verwickelte sie in ihrer unnachgiebig-freundlichen Art in ein längeres Gespräch . Wir hofften, beteten . . . und es klappte: Annette brachte die junge Frau, die wir hier einmal Lea nennen, ins Lebenszentrum. Sie hatte lediglich einen Abtreibungstermin vereinbart. Es war eine traurige und erschütternde Geschichte, die wir erfuhren: Die Eltern waren ermordet worden, als Lea 6 Jahre alt war. Ihre damals 18-jährige verheiratete Schwester nahm sie zu sich. Deren Ehemann war Alkoholiker, neigte auch zur Gewalttätigkeit. Nach dem frühen Tod der einzigen verbliebenen Familienangehörigen wurde die Situation mit dem Schwager für die inzwischen erwachsene Lea immer unwürdiger. Schließlich flüchtete sie, auch aus Angst vor den ständigen blutigen Stammesunruhen in ihrer Heimat, auf einem Containerschiff nach Deutschland – sie war 30 Tage unter Deck – und bat um Asyl.

Die Chancen waren jedoch sehr schlecht . . . und nun auch noch die Schwangerschaft. Die hübsche junge Frau war so traurig und verzweifelt, wie ich selten jemanden erlebt hatte. Eigentlich sei eine Abtreibung überhaupt kein Thema für sie, weil sie Kinder so sehr liebe und sich auch welche wünsche, aber . . . ihr Freund lehne die Abtreibung zwar ab, sei selbst aber hochverschuldet und könne keine Sicherheit bieten!

Am nächsten Tag saß sie wieder bei uns. Eine Mitarbeiterin berichtete von einem Telefonat mit einem Rechtsanwalt, der behauptet hatte: „Wenn die Frau jemanden findet, der sie adoptiert, kann sie in Deutschland bleiben!“ Alle Augen richteten sich auf mich. Ich dachte bei mir: „Ja, wie soll das gehen – ich kann doch nicht einfach so jemand adoptieren.“ So schwieg ich trotz des erwartungsvoll groß-schwarzäugigen Blickes, der auf mich gerichtet war. Lea tat mir so leid, sie war ein so außergewöhnlich, sympathisches, feines Mädchen. Ich spürte deutlich, dass ihr innerer Kampf um die Entscheidung noch nicht beendet war. Als ich ihr leidvolles Gesicht sah, spürte ich ein so tiefes Mitgefühl mit ihrer Not, dass mir die Stimme weg blieb! Um sie zu trösten, nahm ich sie einfach fest in meine Arme. Sie presste mit Tränen in den Augen ihren Kopf an meine Brust und umklammerte mich regelrecht, wie wenn sie Halt suchte. Im Stillen betete ich für sie und plötzlich hatte ich deutlich wahrnehmbar einen Satz in mir, der mich selbst verblüffte: “Lieber Gott, dieses Mädchen würde ich in mein Herz aufnehmen wie eine eigene Tochter.” Natürlich sagte ich nichts – wir verabschiedeten uns.

Freitag: Um die Mittagszeit kommt Lea erneut ins Lebenszentrum. Erst viel später erfuhr ich, dass sie sich erst nach der Begegnung mit unserem Gehsteigberater vor der Abtreibungsklinik zu der endgültigen Entscheidung für das Leben durchgerungen hatte: „Diese Gottesleute sind so freundlich zu mir, sie werden mir helfen, irgendwie wird es gehen. Gott wird mir helfen.“ Erneut kam das Thema Adoption auf. Mir war zwischenzeitlich klar geworden, dass ich diese „Tochter“ nicht einfach so adoptieren konnte, sondern dass ich in diesem Falle eine wirkliche Herzensbindung eingehen würde. Irgendwann bat ich Lea, mit mir in die Hauskapelle zu kommen, da ich in Ruhe mit ihr sprechen wollte – an diesem Tag war in unserem Lebenszentrum viel Betrieb. Ich dachte mir: „Wenn Adoption, dann muß ich ihr reinen Wein einschenken und ihr auch ehrlich sagen, was bei der Verabschiedung am Vortag in mir lebendig geworden war.“ Ich dachte, wenn ich ihr das nun erzähle, dann hält sie mich für „blem-blem“ und vielleicht übersentimental. Dennoch fasste ich Mut und sagte ihr ganz ehrlich diesen Satz, der während des Gebetes in mir aufgestiegen war.
“Lieber Gott, dieses Mädchen würde ich in mein Herz aufnehmen wie eine eigene Tochter.” Völlig überrascht schaute sie mich mit weit aufgerissenen Augen an und sagte – nachdem sie viermal Luft geholt hatte – mit bewegter Stimme: „Und ich hatte bei dieser Umarmung immer den Satz in mir: He is my Daddy! He is my Daddy! – Er ist mein Vati!“ Ich war so geplättet, dass mir gar nichts mehr einfiel. Wir schauten uns lange an, immer wieder kopfschüttelnd und umarmten uns schließlich weinend. In diesem Moment wurde mir klar, dass der Vater im Himmel mir eine geistliche Tochter geschenkt hatte.

Als sachliche Information sei dem Leser mitgeteilt, dass die Adoption betreffs Aufenthaltserlaubnis praktisch überhaupt nichts bringt. Dennoch erhielt Lea später eine Aufenthaltserlaubnis für fünf Jahre, was absolut unüblich ist! Normalerweise erhält man zu Beginn ein oder zwei Jahre.
Monate später . . .

Inzwischen war allen bekannt, dass in Leas Leib ein Junge heranwuchs. Sie erzählte mir, dass es in ihrem Stamme der Kikuyu in Kenia üblich sei, dass der Großvater dem Kind den Namen geben soll. „Soll das etwa bedeuten, dass dieser Junge Wolfgang heißen soll?“ fragte ich. „Genau!“ sagte sie und verschwand durch die Tür. Ich brauchte Tage, diese Botschaft wirklich zu begreifen. Ein kleiner schwarzer Wolfgang? Einfach unvorstellbar für mich . . .

Am 11. Juli 2002 (Hl. Benedikt) wurde der Kleine geboren, den wir bald darauf in die St. Benediktkirche (um die Ecke des Lebenszentrums) brachten, wo er am 3. August auf den Namen Marcos Wolfgang getauft wurde.

Ich kann bis heute nicht fassen, wie reich Gott uns alle hier immer wieder beschenkt. Die Geschichte des kleinen Wolfgang ist eines der schönsten Geschenke, wie ich es mir in meinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Biologisch natürlich unmöglich, dass ich so ein süßes kleines schwarzes Kerlchen mein Enkelkind nennen darf. Doch was für Menschen unmöglich ist – bei Gott ist alles möglich! Danken wir Gott für diese schönen Erlebnisse, mit denen Er uns den oft so schweren Einsatz im Lebenszentrum und auf der Straße lohnt. Und wäre es nur ein einziges Paar solcher großen offenen, dankbaren Kinderaugen – alle Mühe hätte sich gelohnt!